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Mein Studium in Hamburg: Details






Mein Studium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hamburg war ein mehr oder vor allem minder gut organisiertes Regelstudium, und wirklich kreativ war es nicht. Zu Beginn eines jeden Semesters gab es bei der Rückmeldung im Sekretariat einen Zettel, auf dem angekreuzt war, was man dieses Semester zu studieren habe. Diese Zettel waren verhasst, weil eine ewige Latte von Nebenfächern zu absolvieren war.
In der Mensa wurde ständig über "Akustik und Instrumentenkunde" geflucht, weil irgendwelche Hall-Faktoren von Gebäuden zu errechnen waren; Instrumentenkunde alleine hätte mich sehr wohl gereizt (aber damit habe ich später sehr viel zu tun gehabt). Ein systemkritischer Blick in die aktuell gültige Prüfungsordung für meinen Ausbildungsgang (Musikerzieher im freien Beruf), die eigentlich ständig geändert werden sollte, aber erst nach meinem Examen renoviert wurde, ergab die interessante Feststellung, dass die Teilabschlussprüfung in diesem Nebenfach für mein angestrebtes Examen überhaupt nicht verlangt war. Die Kommillitonen sind da alle hingegangen — ich nicht. Es hat nie jemanden interessiert außer die Ankreuz-Damen im Sekretariat…



Das Nebenfach Satzlehre indes fand sich angekreuzt und in der Prüfungsordnung, und es hat mir extremen Spaß gemacht. Das liegt an den Umständen. Vorgeschrieben war es — glaube ich — für vier Semester, denn vulgo Komponieren für Doofe hilft natürlich auch beim Erfassen irgendeines Notentextes, von Harmonien über Kontrapunktik in Ansätzen bis zum Überraschungseffekt.
Für diese Kurse war die Hochschule hervorragend besetzt; meine Gruppe bestand aus acht Studenten. Darunter waren vier Asiatinnen, die vielleicht hervorragend geigten, aber so schlecht Deutsch sprachen, dass sie eigentlich nichts verstanden, die Hausaufgaben nicht lösen konnten und letztlich nie da waren. Von meinen verbleibenden drei Kommilitonen waren zwei offenkundig blöd — man muss ja nicht intelligent sein, um gut zu musizieren, aber für den Blick hinter die Kulissen kann eine gewisse Denkfähigkeit nicht schaden. Die blieben also auch bald weg; und was mit dem Letzten ist, weiß ich nicht mehr.
Ich indes war praktisch immer da. Anfangs lag es an der Bundesbahn. Vier meiner sechs Semester (plus eins fürs Examen) habe ich von Göttingen aus per Monatskarte erledigt, und Dienstags Nachmittags war Hauptfach angesagt, soll heißen, Gitarre alleine beim Prof. Die Satzlehre beim seither von mir hoch gepriesenen Prof. Anton Ditzel († 2002) passte noch genau zwischen Hauptfach und den bequemen Zug ab Bahnhof Dammtor.
Bald war indes klar, dass ich gerne zu Prof. Ditzel ging. Meist waren wir nur zu zweit. Die Aufgaben erteilte er nach dem "EKG", dem Evangelischen Kirchengesangbuch (heute heißt das einfach EG): Nehmen Sie Nr. xx als Bass und machen Sie einen vierstimmigen Satz mit einer kantablen Melodie (oder als Sopran oder, oder). Ditzel hatte natürlich Routine und kannte sich aus; es gab ausgesprochen fiese Lieder, die nicht einfach zu harmonisieren oder anders zu verwerten sind.
Im Bus von der Hochschule am Milchweg in Pöseldorf bis zum Dammtor-Bahnhof bin ich konsequent schwarz gefahren. Dort habe ich mir im Lädchen ein Joghurt gekauft (Löffel dafür und eine Thermoskanne mit Tee hatte ich sowieso dabei) und mich ins Abteil "Mutter und Kind" (oder so) gesetzt, da war man immer alleine.
Langweile kam auf, als ich Ditzels Aufgaben schon in Lüneburg fertig hatte. Ich ging dazu über, für das als Sopran geforderte EKG-Lied die Nummer vorher so lange zu verbiegen, bis sie als Bass passte. (Oder umgekehrt oder so.) Das erforderte natürlich Kompromisse.
Ich betrete den Raum im Neubau mal wieder als Einziger. Wir begrüßen uns. Ditzel: "Na, Herr Ulrichs, dann zeigen Sie doch mal, was Sie nun wieder gemacht haben." Nimmt mein Notenheft, setzt sich ans Klavier und spielt mir mein Machwerk vor. Das habe ich selber übrigens nie getan, denn es galt die relativ eiserne Regel: man erkennt am Notentext, wie es klingt…
Dann: "Oh, Herr Ulrichs, in Takt 9 ist ein Regelverstoß durch Terzverdoppelung." Ich voller Sportsgeist: "Ich weiß, aber sonst klappt es nicht mit dem von mir ausgesuchten Bass." Doch (geht an die Tafel und schreibt): "Sehen Sie hier, wenn Sie in Takt 7 mit den verbotenen Quinten arbeiten, fällt es nicht so auf." Und spielt es mir vor.
Ein paar Jahre lang habe ich später mit einem Ensemble von mir "gefälschte" Werke des nie existierenden Bach-Sohnes Bartholomäus (so mein dritter, geerbter Vorname) aufgeführt. Die "Knoblauch-Kantate" etwa zehrt sehr viel vom EKG. Und die "Weihnachtslieder-Kantate" (auch als Instrumentalfassung: Natalorium) mit etwa neun Weihnachtsliedern in gut sechs Minuten ist nicht schlecht — nur ist Göttinger Studenten der Musikwissenschaft, die diese "Ausgrabung" bewunderten, nicht aufgefallen, dass die eigentlichen Instrumentalparts komplett bei Corellis Weihnachtskonzert geklaut waren.
Die Teilabschlussprüfung in Satzlehre übrigens war denkwürdig. Ich hatte an der Tafel irgendwas zu arrangieren, das war kein Problem. Anwesend waren außer Ditzel und mir ein Mensch vom Akademischen Prüfungsamt der Freien und Hansestadt sowie ein Studentenvertreter. Aber dann spielte Ditzel mir ein Stück aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach vor, ich hatte dabei legal Noteneinsicht. Harmonische Analyse! Ich war am Drucksen, es dauerte, denn es war in f-moll, also mit vier B-Vorzeichen. Prüfungsnote: Zwei, denn meine Arrangements waren tadellos gewesen.
Hinterher draußen Ditzel: "Aber Herr Ulrichs, was war das denn mit der Analyse? Das hätten Sie doch mit dem kleinen Finger??!?" — "Herr Ditzel, ich bin eigentlich Gitarrist, und mit B-Vorzeichen haben wir es nicht so…" Der nette alte Herr machte sich daraufhin schwere Vorwürfe, das habe er doch gewusst, das hätte er berücksichtigen müssen usw. Ich glaube, ich habe ihn beruhigen können; mein Examensschnitt lag ohnehin bei 1,8 — und das hat später nie wieder jemanden interessiert.

Prof. Ditzel lebt nicht mehr. Für mich war er in meinem Studium eine ganz zentrale Figur.



Jahrende später. Ich habe in Göttingen ein aufwändiges aber nicht unbedingt gutes Orchester (das ich ca. 2009 nach fast 20 Jahren aufgegeben habe). Neu ist eine ältere Dame mit (eigentlich nicht notwendiger) Querflöte, die unbedingt auch gerne Vertretungsparts spielen möchte. Sie fährt über Ostern zu irgendeiner Musikwoche, die von von Prof. Eike Funck († 2006) geleitet wird. Der war Lautenist und Tausendsassa aus Hamburg, bei ihm habe ich ein Semester Hauptfach studiert, außerdem mehrere Semester Fachdidaktik und Literaturkunde. In der Vorstellungsrunde der Musikwoche erzählt die Dame, dass sie neuerdings in einem skurrilen Orchester in Göttingen spielt, dem “Laienorchester Die Späteinsteiger." Darauf Funck: "Hat das etwas mit Wieland Ulrichs zu tun?"



Mein Hauptfachdozent indes war Klaus Hempel, damals noch nicht Professor für Gitarre. Er war pingelig und kreativ zugleich mit einer ungeheuren künstlerischen Ausstrahlung und bemängelte gelegentlich meine mangelnde Vorbereitung (vulgo: Üben). Er erwartete von seinen Studenten mindestens vier Stunden tägliches Üben, und das war wegen der zahlreichen Nebenfächer mit Aufgaben, Klavier (auch mit Üben) und natürlich musikalischen Nebentätigkeiten (z. B. um Geld zu verdienen) einfach nicht möglich. Es gab aber auch Stücke, die hervorragend klappten, sogar zu meinem Erstaunen. Und das lag an etwas, was der liebe Klaus Hempel vielleicht überhaupt erst hier erfährt: Ich konnte nämlich im Unterschied zu deprimierend vielen Kommillitonen (die eigentlich besser Gitarre spielten als ich) gut vom Blatt spielen… In jedem Fall: Praktisch losgelöst von dem konkreten Gitarren-Kleinkram verdanke ich ihm nicht etwa die Übernahme seiner künsterischen Werteskala, sondern die Entstehung meiner eigenen. Und das ist das Beste, was ich von meinem Studium mitgenommen habe.



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